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Die Angst vor dem ersten Schritt

Vorgestern fuhr ich mit dem Rad an der Ruhr entlang und kam an einer Fussgänger- und Eisenbahnbrücke, die über die Ruhr in Schwerte führt vorbei. Eine Gruppe Jugendlicher kletterte übers Geländer und sprang von dort in die Ruhr. Das Ganze war schon beeindruckend, denn die Brücke ist ca. sieben Meter hoch. Das reizte mich auch. Da ich sowieso schwimmen gehen wollte kletterte ich mit ihnen rauf. Sie waren ziemlich überrascht, dass ein Erwachsener sich für ihre Abenteuer interessierte; aber freuten sich offensichtlich. Der Anführer sagte: "Sie sind der erste Erwachsene, der mit uns springt." Ich versicherte mich bei den Jungs, dass die Ruhr dort tief genug sei und verzichtete aufs Tauchen, um die Tiefe zu überprüfen. Also kletterte ich übers Geländer und stellte mich auf den schmalen Außenrand der Brücke. Die Jungs sprangen einer nach dem anderen - mit lautem Gebrüll. Dann war ich dran. Ich schaute nach unten. Ganz schön hoch. Ich zählte innerlich bis drei; doch ich sprang nicht. Etwas hielt mich zurück zu springen. "Was ist denn jetzt los?", begann der innere Dialog mit mir selbst. Als Junge bin ich oft vom 10-Meter-Brett gesprungen und auch von noch höheren Felsen auf La Palma.

sprungIch nahm mir ein paar Minuten Zeit, nahm die Abendsonne im Gesicht wahr und fühlte das Kribbeln im Bauch. "Wovor hab ich denn eigentlich Angst?" Der Verstand argumentierte, dass es doch nicht tief genug sein könnte, weil ich schliesslich schwerer und größer sei als die Jungs. Aber das war es nicht. "Was ist die wirkliche Angst?" Vielleicht der Moment des Loslassens, der Schwindel und leichte Kontrollverlust, der durch die Beschleunigung entsteht, das Gefühl der Ohnmacht, die mit dem Kontrollverlust verbunden ist. Ich glaube, das ist es. Auch wenn es nur eine Sekunde ist - wir haben alle Angst die Kontrolle zu verlieren, haltlos zu sein. "Ok, jetzt weiss ich was es ist. Also durch und runter." dachte ich. Aber ich wartete. Die Jungs standen unten, warteten - es kamen keine blöden Kommentare oder so etwas. Einer rief: "Bei mir hat es das erste Mal auch so lange gedauert."

Ich erinnerte mich, wie es früher war: das erste Mal ist es schwer, wenn man danach noch ein paarmal springt, wird es immer einfacher. Ich atmete tief durch und begann die Situation zu geniessen. Ein leichter Wind kam auf und ich schaute in die Landschaft. Wahrscheinlich werde ich hier nie wieder dieses Gefühl haben. Nach dem 1. Sprung wird dieser Zauber, die Angst und Aufregung, das Kribbeln weg sein. Jetzt bin ich hellwach und energetisiert. Und ich begann mich davon frei zu machen möglichst schnell springen zu müssen.

In Brasilien, wo ich im Februar an meinem Buch schrieb, begann ich den Tag mit einem Bad im Pool. Ich stand in der Morgendämmerung am Beckenrand. Die ersten Vögel erwachten, die Sonne war noch nicht aufgegangen und die Farben begannen sich zu entfalten. Die Luft hatte noch diesen Nachtgeruch. Ich stand an der Grenze zwischen Tag und Nacht. Die spiegelglatte Oberfläche reflektierte den Himmel in zarten Farben. Bewegungslos und still. Wenn ich springe kommt Bewegung in dieses Bild, ich bringe Bewegung ins Wasser und Lärm in die Stille. Manchmal stand ich minutenlang in Meditation am Rand und genoss den Moment vor dem Sprung - ein Verweilen an der Grenze.

Wie oft stürmen wir achtlos über eine Grenze und verpassen die Magie dieses einzigartigen Augenblicks!

Mir war klar, dass ich springen würde - niemals würde ich zurück gehen. Die Frage war also nicht - spingen oder nicht, sondern wann würde ich springen? Als 14-jähriger war ich im Urlaub in Spanien mit meinen Eltern. Wir waren in einem Freibad mit Sprungturm. Vom 5-Meter-Brett machte ich alle möglichen Kapriolen und dann stand das 10-Meter-Brett an. Ich kletterte die dünne Leiter hoch und tat erstmal so, als würde ich mich unverbindlich umschauen wollen. Ich ging an die Kante und schrak zurück - das war ein echter Unterschied zum 5er! Ich wollte springen, aber im letzten Moment hielt mich die Angst zurück. Das ging eine ganze Weile so, bis schliesslich das halbe Freibad zusah und Kommentare abgab. Spätestens ab dem Zeitpunkt war klar: hier kann ich nur vorwärts runter. Ich erinnere mich noch ganz klar an die Situation, an alle Einzelheiten, denn in solchen Situationen ist man hellwach und präsent. Ein paar spanische Jungs kamen herauf und sprangen betont lässig an mir vorbei - wie eine Verhöhnung. Ich stand glaube ich eine halbe Stunde da oben in der Mittaghitze, mein Vater rechts unten, der mir Mut machte, 20 DM bot (was damals viel Geld war), aber nichts half. Plötzlich platzte ihm der Kragen. Er schrie: "Jetzt reichts. Du springst jetzt sofort, sonst setzt es was. Bei 3 bist du unten: Eins, zwei ,..." Und bei drei war ich in der Luft. Kein optimaler Sprung. Ich kam etwas schräg auf, aber die Erleichterung war intensiver als die Schmerzen. Er hatte mich mit seiner Entschiedenheit runtergeholt. Und dann nach dem Glückwunsch wieder hoch geschickt, um die Angst zu verlieren.

Ich schaute runter zu den Jungs. Ja, nach dem Sprung würde ich die Angst verlieren - wie sie. Sie kamen hoch und sprangen die nächste Runde. Ein Junge sagte: "Für mich ist es jedesmal eine kleine Überwindung." Sie sprangen alle, aber ich wollte noch etwas oben bleiben. "Warum will ich eigentlich hier runter springen?" fragte ich mich. Ich hätte mir doch die ganze Aufregung ersparen und einfach schwimmen gehen können. Was ist der Reiz? Die Antwort kam prompt: eine persönliche Grenze zu erweitern. Eine kleine Herausforderung kreiert und gemeistert zu haben. Hinterher werde ich mich gestärkter und freier fühlen. Ich suche mir oft im Leben diese Herausforderungen - eigentlich fast täglich. Ich glaube, Männer brauchen alltägliche Herausforderungen, um sich männlich und stark zu fühlen, um die eigene männliche Energie, Mut und Kraft zu spüren. Und um zu erleben, dass man sich aus den eigenen Grenzen befreien kann.

Einiges mehr erlebte ich noch in den paar Minuten auf der Brücke - ich habe die Zeit genossen. Und dann spürte ich, dass die Faszination vorbei ging, mein persönliches Energieniveau runterging. Also sprang ich. Alles bestens. Ich berührte leicht mit den Füssen den Grund, aber nur kleine, runde Kiesel. Das kalte Wasser und das Schwimmen in der Strömung tat gut. Die Jungs freuten sich. Ich hatte an "ihrer" Initiation teilgenommen. Ich interessierte mich für ihre Suche nach Grenzen. Ich glaube, viele Jugendliche suchen die Bestätigung durch erwachsene Männer, nicht nur durch die eigene Clique. Ich drückte meine Anerkennung aus und sprang noch zweimal mit ihnen - la ola - ein kleines Video hab ich auch davon. Aber es war nicht mehr so schön und faszinierend wie beim ersten Mal.

Was sind Eure Herausforderungen im Alltag, der "1. Schritt"? Teilt mir Eure Erfahrungen mit.