Vivir la pasión (gelebte Leidenschaft)
Der junge Mann neben mir bekreuzigt sich, als die Maschine zum Start ansetzt. Es überrascht mich, obwohl ich doch weiß, welchen großen Einfluss die katholische Kirche in Südamerika noch immer hat – auch auf die jungen Leute. „Sempre estou viajando com deus“ – „Ich reise immer mit Gott“ sagt mir Joãa mit einem Lächeln, als er meinen Seitenblick bemerkt. Er ist ein brasilianischer Geschäftsmann, wie sich im Gespräch herausstellt und ist wie ich auf dem Rückflug von Buenos Aires nach São Paulo – den beiden größten Metropolen des Kontinents. Ich liebe es zu fliegen: Zeit zum Nachdenken, meditieren und schreiben. Zeit, um die Eindrücke einer Woche Buenos Aires zu verarbeiten. Ich schließe die Augen und höre instrumentale Tangomusik – die moderne, elektronische Variante.
Du bist der Mann
„Tu eres el hombre“ sagt mir die argentinische Blonde, die ich im Arm habe. Sie bringt es klar auf den Punkt: „Du bist der Mann“ – besser könnte sie nicht reagieren. Die „Confitería Ideal“ ist ein altes Jugendstilgebäude im Zentrum von Buenos Aires, ein stilechtes Tanzhaus mit Interieur aus den 30er Jahren, der Blütezeit des Tango. Stuckdecken, Kronleuchter, Plüschsessel und selbst die Kellner scheinen aus dieser Zeit zu sein, die hier vermutlich stehengeblieben ist. Wenn man aus der grellen Hitze und Geschäftigkeit der Straße eintritt, ist es wie eine Zeitreise in die Vergangenheit. Der ferne Straßenlärm des Zentrums von Buenos Aires vermischt sich mit der Tangomusik und den Anweisungen des Tangolehrers. Das Publikum ist denkbar gemischt: alte argentinische Paare, die regelmäßig zum Tanztee kommen, akkurat und konservativ gekleidet, einige junge „porteños“ (Leute aus Buenos Aires), die sich betont lässig geben, und natürlich Touristen aus aller Welt, die Tango lernen wollen. Eine ruhige, konzentrierte, etwas melancholische Atmosphäre herrscht hier, die mir gefällt.