„Geh dorthin, wo du verletzt bist,
wo deine Sehnsucht sitzt, wo du Schmerz spürst.
Mach keine Bewegung davon weg.
Geh dorthin, wo du schutzlos und verletzlich bist,
lass dich tragen, hab Vertrauen.
Wenn alles ausgeweitet ist, wenn alles Platz hat,
ist die Liebe da"
(nach S. Widmer)
Die Liebe zeigt sich in der Verletzlichkeit
Die Liebe macht verletzbar - sagt ein altes Sprichwort. Wenn dem so ist, wäre verständlich, warum in unserem Leben so wenig Liebe ist, warum so wenig Menschen die Liebe erfahren. Denn wer möchte schon verletzbar sein? Wer möchte sich verwunden lassen?
Mit dem Verneinen und Vermeiden der Verletzlichkeit verhindern wir nicht nur die Liebe, wir verraten damit eine essentielle Qualität und Charakteristikum unseres Menschseins. Es gibt keine uns bekannten anderen Lebewesen, die so verletzbar sind, wie wir Menschen.
Verletzlichkeit ist eine zutiefst menschliche essentielle Qualität
Von Geburt an haben wir die Qualität der Verletzlichkeit mitbekommen. Jedes Baby, das geboren wird, ist extrem verletzlich und abhängig: körperlich, emotional und mental. Betrachten wir ein Baby, können wir erkennen, dass diese Verletzlichkeit Offenheit und Vertrauen beinhaltet. Neugeboren, wie es auf die Welt kommt, ist es noch ein unstrukturierter, unbegrenzter Energiefluss, reine Wahrnehmung, eine Einheit mit allem. Ein offener, durchlässiger, fühlender, verletzlicher Wesenskern, der total geöffnet ist für die sinnliche Wahrnehmung und alle Impulse und Sinneseindrücke in sich aufnimmt, sich beeindrucken und beeinflussen lässt. Alles, was es sieht, hört, zu fühlen bekommt, hinterlässt seine Spuren im Bewusstsein des geöffneten Wesens: positive Spuren, im Sinne von unterstützend für die Entwicklung des eigenen selbst oder negative Spuren, in dem das selbst begrenzt oder zerstört wird.
An dem Beispiel des Neugeborenen können wir sehen, dass Verletzlichkeit Offenheit und Durchlässigkeit bedeutet - und Berührbarkeit. Alles wird aufgenommen, eingelassen - das Wesen Mensch lässt sich beeindrucken und formen. Aber auch emotional ist es verletzbar durch die Fähigkeit zu fühlen und ein breites Spektrum an Empfindungen in sich wahrzunehmen und diese auch zu reflektieren. Es kann jegliche Arten von Lust und Schmerz empfinden, Liebe und Hass, Ekstase und Einsamkeit um nur die extremsten Gefühle zu nennen. Dazwischen gibt es noch eine ganze Palette an verschiedenen Gefühlen, Empfindungen, Stimmungen in unterschiedlicher Intensität und Aspekten. Die Fähigkeit zu fühlen und mehr noch das Bewusstsein darüber, dass wir fühlen und was wir weshalb fühlen, hat uns vorsichtig werden lassen im Umgang mit dem Fühlen.
Der Schutzpanzer aus Abwehr und Bewertungen
In einführenden Seminaren fragen wir manchmal die Menschen, was sie suchen, was sie erleben wollen. Dann hören wir sehr oft den Wunsch nach mehr Lebensfreude, Lust, nach einem Gefühl von mehr Lebendigkeit oder auch Entspannung. Viele Menschen leiden unter einer gewissen Gefühlsarmut und funktionieren vor allem in ihrem Leben. Sie fürchten die Verletzbarkeit und Abhängigkeit und bewerten diese als Schwäche. Sie haben Angst, ihren Gefühlen hilflos ausgeliefert zu sein, wenn sie diese zulassen und rettungslos von ihnen überflutet zu werden und in ihnen unterzugehen.
Und tatsächlich, wenn wir traurig sind, können wir das Gefühl haben, die Tränen hören niemals mehr auf; wenn wir wütend sind oder eifersüchtig kann sich das wie ein inneres Feuer anfühlen, das uns verzehrt. Und wenn wir von einem geliebten Menschen verlassen werden, können wir uns total zerstört fühlen und wollen am liebsten sterben. Unsere Kapazität zu fühlen und damit verletzbar zu sein ist gewaltig und daher vermeiden wie sie lieber. Wir haben ein Schutzschild um uns aufgebaut. Und machen uns dickhäutig wie Alligatoren oder Schildkröten, die durch ihren dicken Panzer unempfindlich und unverletzbar werden.
Diesen Schutzpanzer haben wir uns bereits in frühester Kindheit erworben. Wenn wir uns dieses offene, durchlässige, verletzliche neugeborene Wesen, das wir alle einmal gewesen sind, vorstellen, dann verstehen wir auch, dass so ein Wesen auf Härte, Stress und Ungeduld der Erwachsenen mit Verwirrung, Hilflosigkeit und Ohnmacht reagiert. Das sind meist die ersten Spuren einer Schutzschicht. Diese Schutzschicht wird weiter stabilisiert, wenn auf den Ausdruck seiner Enttäuschung und Verletzung wiederum mit Unverständnis, Ungeduld und Ablehnung seitens der Erwachsenen reagiert wird.
Dann kommt es zur zweiten Schutzschicht: Wenn das Baby die Ablehnung und Abwehr der Erwachsenen spürt, wehrt es selbst ebenfalls seine Gefühle des Unverstandenseins und Ausgeschlossenseins ab. Gleichzeitig baut es eine weitere Schutz- oder Abwehrschicht auf, indem es die eigenen Gefühle als negativ bewertet und bei sich selbst ablehnt. So wird die Schutzschicht allmählich zum Abwehrpanzer, der Schicht um Schicht dicker wird. So verlieren wir mehr und mehr die Erinnerung daran, wer wir einmal waren und verlieren den Kontakt zu unserem ursprünglichen Wesenskern. Wir verlieren den Kontakt zu unserem ureigensten selbst.
Wir kennen nur noch unseren Panzer aus Rückzug und Einsamkeit, aus Abwehr und Aggression und identifizieren uns ganz selbstverständlich damit. Das sind wir. Der Glaube, sich ein dickes Fell zulegen zu müssen, um überleben zu können ist gesellschaftlich weit verbreitet, eine kollektive Überzeugung. So verstecken wir uns und vergessen unsere essentielle Gabe der Verletzlichkeit und Offenheit.
Wie Unempfindsamkeit verletzt
Diese Verpanzerung nach außen hat jedoch vielerlei Verletzungen im Innern zur Folge: Tatsächlich werden Menschen unempfindlicher und unempfänglicher. Jetzt müssen sie nicht länger die schmerzhaften Gefühle erleben, aber auch all die schönen und glücklichmachenden Gefühle ersterben: Freude, Lust, Liebe und Lebendigkeit und eine einsame, unsichere Leere macht sich im Innern breit. Da Menschen mit einem dicken Panzer auch andere nicht mehr nah sein lassen können, erfahren sie selten noch wirkliche Liebe und Verbundenheit. Sie fühlen sich getrennt von den anderen und in ihrem Herzen einsam und abgeschnitten. Auf der körperlichen Ebene sorgt der Schutzpanzer für eine enorme Anspannung, die nur selten aufgegeben werden kann. Die permanente Anspannung wird chronisch und sorgt für die weitverbreiteten Rücken-, Kreuzbein und Nackenschmerzen. Der Schaden, den wir an dieser Panzerung der Unempfindsamkeit nehmen ist enorm.
Tantra führt zurück zur Verletzlichkeit
So ist es nicht verwunderlich, dass immer mehr Menschen den tantrischen Weg beschreiten. Die unbewusste Erinnerung und daraus wachsende Sehnsucht nach dem eigenen ursprünglichen heilen Wesenskern, der alles enthält, was wir für ein glückliches Leben benötigen, lässt uns auf die Suche gehen. Der tantrische Raum bietet einen Schutzraum des Vertrauens und Loslassens, indem Menschen entspannen und die von ihnen gewünschten Schritte der Selbstentfaltung gehen können. Er ist ein energetischer Raum, indem das eigene Energieniveau erweitert und ausgedehnt werden kann, mit der Intention, den engen Panzer von Ängsten, Abwehr und Bewertungen aufzuweichen, um zurück zum eigenen Selbst zu finden.
Dies kann geschehen, weil Menschen in diesem besonderen Raum Vertrauen finden, sich wieder berühren zu lassen - äußerlich und innerlich. Sie werden eingeladen, die anderen Menschen und die unmittelbare Erfahrung mit ihnen wirklich in sich eindringen zu lassen und sich davon durchdringen zu lassen. Die oft verschütteten Fähigkeiten des nach Innen Lauschens und Spürens werden neu geweckt. Dadurch entsteht ein ganz neuer Zugang zu sich selbst. Die Schutzschichten können nach und nach immer mehr aufgegeben werden, je mehr sie dem Prozess vertrauen. Dann machen sie die Erfahrung, dass sie zurückgewinnen, was sie solange so schmerzlich vermisst haben: Empfindsamkeit, Empfänglichkeit, Zartheit, Freude, Liebe und Lebendigkeit.
Wir dürfen nicht verschweigen, dass das Auflösen des Schutzpanzers durchaus auch schmerzhaft sein kann. Wenn all die ungeliebten und abgewehrten Gefühle wieder auftauchen, tauchen Menschen unter Umständen noch einmal ein in Erlebnisse ihrer Kindheit, die aber nach unserem Verständnis, nur auf diese Art wirklich geheilt und gelöst werden. Die Früchte sind reichhaltig und süß: die Rückgewinnung der Empfindsamkeit und Empfänglichkeit für alle Gefühle und Gaben, die Menschen und das Leben für uns bereit halten.
Leila Bust
Artikel erschien gekürzt in der Zeitschrift „Sein", Berlin, 2004